Was heißt das, der Toten gedenken?

Ich meine nicht jenes Gedenken, für das wir Gedenktage und Gedenkstätten haben wie den Volkstrauertag am vorletzten Sonntag im Kirchenjahr und die Denkmäler für die Opfer von Krieg und Gewalt, sondern unser ganz persönliches Gedenken der Menschen, die uns ganz nahe waren und die der Tod aus unserem Leben gerissen hat.

In Worten aus dem reformierten jüdischen Gebetbuch "Tore des Gebets" habe ich ausgedrückt gefunden, was es bedeutet:


Beim Aufgang der Sonne und bei ihrem Untergang erinnern wir uns an sie.

Beim Wehen des Windes und in der Kälte des Winters erinnern wir uns an sie.

Beim Öffnen der Knospen und in der Wärme des Sommers erinnern wir uns an sie.

Beim Rauschen der Blätter und in der Schönheit des Herbstes erinnern wir uns an sie. Zu Beginn des Jahres und wenn es zu Ende geht, erinnern wir uns an sie.

Wenn wir müde sind und Kraft brauchen, erinnern wir uns an sie.

Wenn wir verloren sind und krank in unserem Herzen, erinnern wir uns an sie.

Wenn wir Freuden erleben, die wir so gern teilen würden, erinnern wir uns an sie.

So lange wir leben, werden sie auch leben, denn sie sind nun ein Teil von uns,

wenn wir uns an sie erinnern.


"Sie sind nun ein Teil von uns, wenn wir uns an sie erinnern", das ist wahr. So wahr es ist, dass wir uns nur darum an sie erinnern, weil sie ein Teil von uns sind. Der Toten zu gedenken, die als Lebende einmal unser Leben geteilt haben, ist nichts, was wir tun. Es geschieht uns. Wir legen nicht Hand an, um der Toten zu gedenken. Ihre Hand legt sich auf unser Herz. Das tut furchtbar weh, am Anfang, manchmal sehr lange, manchmal für immer. Manchmal auch, mit der Zeit, spüren wir es, wie Kinder im Schlaf die beruhigende Hand von Vater oder Mutter leise auf ihrem Kopf spüren: sie weckt sie nicht auf, sie tut ihnen wohl; das Herz spürt die bergende Nähe. Wie unruhig würde wohl ihr Schlaf, wenn die Hand nicht wäre? Wie unruhig und unsicher würde unser Leben, wenn das Gedenken nicht sein könnte, die manchmal so schrecklich schmerzende, die unverlierbare Nähe derer, deren Hand wir warm und lebendig auf unserem Gesicht gespürt haben? "Sie sind ein Teil von uns". Ohne sie könnten wir die nicht sein, die wir sind. Im Gedenken werden wir uns selbst durchsichtig und erkennen die ernsten und fröhlichen, die von Schmerzen gepeinigten und vom Glück leuchtenden Gesichter, aus denen unser Gesicht geworden ist, von ihnen geprägt und ihnen antwortend in Zustimmung und Widerspruch. Am Ende heißt "der Toten gedenken", zu sich selbst kommen, das eigene Gesicht finden. Gedenken wir der Toten in Frieden.

Pfr Heinrich Immel